After 12 years of research Thomas Tode and I had assembled all the facts about Edmund Meisel, the “most famous forgotten film composer.” We funneled our findings and insights into a book which was published together with the DVD version of the reconstructed 1930 sound version of Eisentsein’s “Battleship Potemkin,” in 2015. Both events rooted in my finding of the long lost Vitaphone discs with Meisel’s original score back in 2002.


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Martin Reinhart, Thomas Tode (Eds).

Potemkin-Meisel. Edmund Meisel und die “Wiener Tonfassung” des Panzerkreuzer Potemkin von Sergej M. Eisenstein

Vienna: Böhlau, 2015


Contents

Thomas Tode und Martin Reinhart. Editorial

Thomas Tode. The Soul of a Century. Battleship Potemkin and its Film Music in the Mirror of the Contemporary German Press

Fiona Ford (Hertfordshire / UK). Edmund Meisel’s Potemkin Score – A Close Reading

Martin Reinhart (Wien). 131 Minutes of Meisel

Thomas Tode / Martin Reinhart. Potemkin-Matrjoschka. The post-war versions of Battleship Potemkin

Fiona Ford (Hertfordshire / UK). Edmund Meisel – A Bibliographical Survey

Press releases about Edmund Meisel 1925–1931

The Authors


Vorwort 

by Thomas Tode und Martin Reinhart

Diese Ausgabe von Maske und Kothurn ist dem in Wien geborenen Komponisten Edmund Meisel (1894–1930) und dem Film gewidmet, der mit seinem Namen wohl am engsten verbunden ist: Sergej M. Eisensteins Stummfilmklassiker Panzerkreuzer Potemkin. Zu seinen Lebzeiten ging die Assoziation des Musikers mit diesem Werk sogar so weit, dass ihn die deutsche Presse halb liebevoll, halb anerkennend »Potemkin-Meisel« nannte. 

Das Erscheinen der vorliegenden Publikation steht auch in engem Bezug zur Premiere der »Wiener Fassung« im Österreichischen Filmmuseum am 6. März 2015. Nach 85 Jahren wird dort die verloren geglaubte und kürzlich neurestaurierte Tonfilm-Version des Potemkin in Österreich uraufgeführt.1 Es ist damit nach fast einem Jahrhundert erstmals wieder möglich, eine der weltweit wohl berühmtesten Filmmusiken in ihrer Originalaufnahme zu hören, so wie man sie 1930 auf Nadelton-Schallplatten aufgenommen hat. Es handelt sich gleichzeitig um einen der ersten deutsch synchronisierten Filme überhaupt. 

Ungeachtet der Tatsache, dass diese Nachvertonung von der zeitgenössischen Kritik eher verhalten aufgenommen und der Film in dieser Fassung gerade mal eine Woche in den Wiener Kinos gezeigt wurde,2 ist die Wiederauffindung und Rekonstruktion der nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe vergessenen Tonversion ein bedeutender Beitrag zur Meisel-Forschung. Das ist auch der Grund, aus dem wir uns bei der Zusammenstellung der Beiträge auf Texte beschränkt haben, die sich entweder direkt auf diese Tonfassung beziehen oder deren Stellwert in Bezug auf die zahlreichen anderen überlieferten Versionen des Films thematisieren. 

Wir haben hier bewusst darauf verzichtet, Meisels Biografie oder seine weiteren Arbeiten für Film und Bühne in eigenen Artikeln zu behandeln, da dies bereits in zwei früheren Publikationen in heute noch gültiger Form geschehen ist. Zum einen in der verdienstvollen Meisel-Biografie von Werner Sudendorf aus dem Jahre 1984;3 zum anderen in der 1986 anlässlich einer Tournee des Potemkin mit Orchesterbegleitung erschienenen Programmschrift,4 in der u. a. Lothar Prox und Mark Andreas instruktive Artikel zur dissonanten, bruitistischen, zitatdurchsetzten, montagehaften Musik Meisels schreiben, beruhend auf der Kenntnis der Noten des kurz zuvor wiedergefundenen Klavierauszugs zum Potemkin.

Das wirklich Neue an unserem Beitrag zur Meisel-Forschung besteht aus einer Reihe vonim letzten Jahrzehnt wieder aufgefundenen Tonaufnahmen von Meisel-Kompositionen auf Schallplatte und Lichtton, die in dem Beitrag »131 Minuten Meisel« im Detail vorgestellt werden. Unter diesen bis dato unbekannten Klangdokumenten ist der Potemkin-Soundtrack sicherlich der bedeutendste Fund. Durch ihn lassen sich die Instrumentierung und das Arrangement der 1920er-Jahre erstmals wieder im Original hören.

Unser Anliegen war es in erster Linie, die Ergebnisse unserer nunmehr vierzehnjährigen Forschung zur Tonfassung des Potemkin zusammenzufassen. Zugleich möchten wir ein kompaktes Kompendium sowie eine Quellensammlung für die künftige Aufarbeitung und Bewertung von Meisels Filmmusik vorlegen. Für diejenigen, die keine Möglichkeit haben, die restaurierte Tonfassung im Kino zu sehen und zu hören, empfehlen wir die zeitgleich erscheinende DVD.5 Denn nur der Tonfilm selbst kann verdeutlichen, was wir hier notdürftig in Worte zu fassen versuchen. Im Vergleich zur Macht der Bilder und zur Wirkkraft der Töne muss das Geschriebene fast zwangsläufig als bemüht und ungelenk erscheinen. Wir hoffen dennoch, dass unser begleitender Kommentar neugierig auf die Musik macht und als Brücke zu einer zusehends verblassenden Zeit und Kultur fungiert.

Bereits das Vorhaben, einen Stummfilm 1930 – nur fünf Jahre nach seiner Fertigstellung – in einer Tonfassung neu herauszubringen, ist erklärungsbedürftig. Es gibt dafür nur wenige historische Beispiele,6 doch die Nadeltonversion des Potemkin hat auch diesbezüglich sicherlich eine Sonderstellung. Denn obwohl er seine größten Erfolge mit der live gespielten Vertonung stummer Filmen feiert, begreift sich Edmund Meisel letztlich nie als Stummfilm-Komponist im herkömmlichen Sinn. Als zeitweiliger Kapellmeister der Piscatorbühne ist er an Experimente und mediales Crossover gewöhnt und die Rolle des Stummfilmmusikers im Orchestergraben scheint ihm von vorhinein als viel zu eng.7 Er plant, Teile des Orchesters im Kinoraum zu platzieren und er sieht – etwa bei der Aufführung seiner Musik für Walther Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt – »bisher kaum benutzte Klangerreger als Begleitstimmen vor: Motor, Sirene, Eisenstangen, Stahlbleche, Amboß, einige abgestimmte Autohupen«.8 Ergebnisse dieser Experimente finden sich dann in der Potemkin-Aufführung wieder, wo zwei Trompeten links und rechts neben der Leinwand postiert werden, um Stereo-Effekte zu erzeugen.

Meisel versteht sich selbst als Praktiker und Gebrauchsmusiker und daher wirken viele seiner Texte in ihrem manifestartigen Stil sprachlich und argumentativ oft ein wenig grob gebaut. Der Mangel an einer schlüssigen Theorie zur Filmmusik bringt ihm nicht nur die Schelte von Theodor W. Adorno und Hanns Eisler ein, sondern auch den spitzzüngigen und öffentlich geführten Angriff des Komponisten und Musikkritikers Klaus Pringsheim, der ihn in einem berüchtigten Artikel des »Nichtskönnertums« bezichtigt.9 Der Fall endet nach zahlreichen ebenfalls coram publico geführten Entgegnungen letztlich vor Gericht. Liest man die zeitgenössischen Zeitungsartikel und Pressemeldungen zu Meisel jedoch genauer, so ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild, als das des krawallmachenden Enfant terrible. Meisel erscheint darin als ein früher Wegbereiter einer neuen Kunstform, der die Grenzen und Regeln seiner Musik erst erfinden und abstecken muss. 

An der Tonfilm-Fassung seines größten Erfolgs mitarbeiten zu können, muss für ihn ein Glücksfall und eine faszinierende Herausforderung gewesen sein. In Meisels Texten und in den Briefen an Eisenstein betont er immer wieder die im Wandel begriffene Rolle, welche die Filmmusik im zukünftigen Tonfilm spielen solle. Seiner Vorstellung nach müsse sich die Musik organisch aus dem Film ergeben und nicht bloß Beiwerk sein, das die Spielhandlung untermalt. So schreibt er am 13. September 1928 im Film-Kurier unter dem Titel »Der Tonfilm hat eigene Gesetze. Eine Mahnung«: 

Vor allem muß der Tonfilm nicht nach einem Manuskript, sondern nach einer Partitur angefertigt werden. Diese Partitur darf aber nicht etwa aus Noten, sondern sie muß aus Bildern, Bildtexten, Geräuschtönen, Musiktönen, gesprochenem und evtl. auch gesungenem Text bestehen, deren Auswahl und kontrapunktische Zusammensetzung nach dem jeweiligen Sujet dann die Filmhandlung ergeben. Nur so können die veränderten und erweiterten Mittel, die der Tonfilm der Entwicklung der gesamten Kinematographie an die Hand gibt, ausgenutzt werden, und nicht etwa durch Aufnahme von bestehenden Opern, Operetten oder gar Schauspielen.

In diesem Kampf gegen das naturalistisch verfilmte Sprechtheater und die zu Beginn der Tonfilmzeit modischen Operetten- und Gesangsfilme ist auch die »Wiener Fassung« des Potemkin zu sehen. Da Meisel selbst maßgeblich an der Einspielung und Aufnahme der Nadeltonfassung von 1930 mitgearbeitet hat, kann man seine Vorstellungen und Ideen zur Tonfilmmusik nun endlich anhand einer Originalaufnahme bewerten. Man bekommt so nicht nur einen lebendigen Eindruck von der Wucht der schroffen und teils auf peitschende Rhythmen aufgebauten Musik, sondern auch von dem gekonnten und komplexen Zusammenspiel von Dialogen, Sprechchören, Geräuscheffekten und Musiken mit Eisensteins Bildern. 

Wie erfolgreich die Tonfilmregie und die praktische Umsetzung wirklich sind, lässt sich am besten im Vergleich mit anderen Filmen der frühen Tonfilmzeit ermessen. So war es Ende der 1920er-Jahre keinesfalls üblich, Filme durchgehend mit Musik, Dialog und Geräuschen zu versehen. Von einer in all diesen Registern durchkomponierten Vertonung kann zu dieser Zeit nur bei wenigen Ausnahmen gesprochen werden. 

Aber auch unabhängig von seiner historischen Verortung ›funktioniert‹ die Tonversion des Potemkin auch heute noch überraschend gut. Der Film ist lebendig und an manchen Stellen weitaus mitreißender als die heutigen, gediegenen und häufig mit großen Orchestern live vorgetragenen Stummfilm-Aufführungen. Dies liegt sicherlich am Weglassen der für den Stummfilm typischen Zwischentitel, aber eben auch an der am Agitprop-Theater geschulten brüsken Tonspur.

Wir hoffen, mit dieser Publikation dazu beizutragen, dass die »Wiener Fassung« künftig nicht mehr bloß als filmhistorische Randnotiz, sondern als überzeugende und eigenständige Version des Panzerkreuzer Potemkin wahrgenommen wird. Auch würden wir uns wünschen, dass das hier von uns zusammengetragene Material eine junge Generation von Film- und MusikwissenschaftlerInnen dazu inspiriert, sich mit dem berühmtesten aller vergessenen Filmmusik-Komponisten weiter auseinanderzusetzen.


131 Minuten Meisel

by Martin Reinhart

Der in Wien geborene Edmund Meisel war einer der berühmtesten und umstrittensten Stummfilmkomponisten seiner Zeit. Heute ist sein Werk nur Spezialisten bekannt, was sicherlich auch daran liegt, dass sich kaum Originalaufnahmen seiner Filmmusiken erhalten haben. Jeder drittklassige Tonfilmschlager ist unwiderruflich ins Gedächtnis der Archive eingeschrieben, doch die völlig neuartige Potemkin-Musik kannte bis vor kurzem niemand in ihrer ursprünglichen Form. 

Edmund Meisel war der Wegbereiter einer neuen Kunstform und teilt das Schicksal vieler Pioniere. Nicht nur schaffte er Ungehörtes, sondern er musste auch die Grenzen und Regeln seines Tuns erst erfinden und abstecken. Seine von der Nachwelt wenig beachteten und bisher kaum je gesammelt publizierten Artikel zu Filmmusik und Tonfilmdramaturgie geben ein lebendiges Bild dieser Suche, aber auch von dem Bewusstsein, an etwas Wesentlichem beteiligt zu sein. Das Verhältnis zwischen den Bildern und Tönen wird darin neu verhandelt und erstmals auch die mitreißende Kraft beschworen, die das Kino durch ein gelungenes Zusammenspiel der beiden Elemente entfesseln kann. Meisel gelingt dieses Kunststück 1926 mit seiner legendären Musik zu Sergei Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin. Die zeitgenössische Presse jubelt über die bis dato nie erlebte Suggestionskraft des Filmerlebnisses und lobt Meisels ruppige und grob geschnitzte Vertonung. Der Film macht den jungen Kapellmeister der Piscator-Bühne mit einem Schlag weltberühmt. 

Dass wir heute so wenig über Edmund Meisel wissen und die Überlieferung seiner Kompositionen so lückenhaft ist, liegt sicherlich auch daran, dass er in eine schnelllebige Zeit hinein geboren wird, die durch politische Unruhe und Aktivismus geprägt ist. Das Berlin der 1920er-Jahre ist damals eine der dynamischsten Metropolen der Welt. Meisel bewegt sich dort im Zentrum eines politisch und künstlerisch experimentierfreudigen Milieus, das sich und seine Regeln permanent neu erfindet. Er arbeitet für das Kino, das Agitationstheater und fürs Varieté – alles Ausdrucksformen, denen der offizielle Kulturbetrieb jeglichen kulturellen Wert abspricht. Lässt man die beachtliche Liste der Film- und Theaterproduktionen Revue passieren, die Meisel in seinem kurzen Leben musikalisch betreute, wird klar, dass nichts davon für die Ewigkeit gedacht ist. Rastlos ist auch seine Arbeitsweise: Die Potemkin-Musik hat er nach eigener Aussage in zwölf Tagen und Nächten geschrieben und für die musikalischen Arrangements zu den teilweise chaotischen Inszenierungen der Piscator-Bühne ist meist noch weniger Zeit. 

Aber nicht nur das halsbrecherische Tempo der Zeit ist für den Mangel an Archivierung und Dokumentation von Meisels Arbeit verantwortlich. Professionelle Tonaufnahmen sind Mitte der 1920er-Jahre noch nicht in dem Ausmaß realisierbar, dass man eine ephemere Produktionen auf Verdacht hin archiviert. Das Aufnehmen und Vervielfältigen von Schallplatten ist ein technisch aufwendiger Vorgang und ein nachträgliches Abmischen und Korrigieren praktisch unmöglich. Damit eine Aufnahme beim ersten Mal gelingt, muss alles minutiös geplant und unter kontrollierten Bedingungen stattfinden. Auch zahlt sich die kostspielige Herstellung der Matrizen und die Vervielfältigung der Schallplatten erst ab einer auflagenstarken Pressung aus – wie viele Grammophon-Besitzer aber haben schon Interesse, sich zuhause avantgardistische Geräuschmusik anzuhören?

Nicht zuletzt tragen auch Meisels plötzlicher und unerwarteter Tod im Jahr 1930 und die weltpolitischen Umwälzungen der darauf folgenden Jahre dazu bei, dass sein Werk entweder verloren geht, oder sich über die Welt verstreut. Elisabeth Meisel lebt nach dem Tod ihres Mannes in London, wo sich ihre Spur verliert. Ob sie seinen Nachlass im Gepäck hatte und woraus er bestand, ist nicht bekannt. Erst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird begonnen die Puzzlestücke eines schillernden Lebens wieder zusammen zuführen. Teile davon werden in Berlin, Frankfurt, Moskau, New York, London und Wien gefunden. 

2002: 3 Minuten 

2002, als Thomas Tode und ich mit unserer ausgedehnte Recherche zur Tonversion des Panzerkreuzer Potemkin beginnen, gibt es zu Edmund Meisel lediglich eine schmale Publikation aus der Reihe des Deutschen Filmmuseum in Frankfurt: die von Werner Sudendorf liebevoll zusammengetragenen biografischen Materialien »Der Stummfilmmusiker Edmund Meisel« (Kinematograph, Nr. 1, 1984). Wir kannten natürlich die unterschiedlichen, seit 1972 durchgeführten Versuche, die berühmte Potemkin-Musik zu rekonstruieren, aber außer der leider nicht sehr aussagekräftigen Tonspur von Arnold Fancks Film Stürme über dem Montblanc ist zu dieser Zeit keine historische Originalaufnahme einer Meisel-Musik bekannt. Meisel hatte zu diesem Film ein kurzes dreiminütiges experimentelles Musikstück beigetragen – die Gesamtheit der Filmmusik wurde jedoch von Paul Dessau verantwortet. 

Wien: 42 Minuten 

Der Ausgangspunkt unserer Forschung zu Meisel ist der Fund von drei kompletten Sätzen zu je fünf Filmtonplatten, die sich im Technischen Museum in Wien erhalten haben. Als Kurator der Abteilung »medien.welten« bin ich damals für die Bereiche Fotografie, Film und Audio zuständig und stoße dabei auf einen interessanten Katalogeintrag. Was sich hinter dem als »Nadeltonplatte Potemkin« inventarisierten Objekt tatsächlich verbirgt, begreife ich aber erst später und dank der Mithilfe von Thomas Tode. Er stellt im Auftrag des Museums eine erste Recherche zu den Platten an, die schon bald klar macht, welchen filmhistorischen Schatz wir geborgen haben. Und fast noch wichtiger: Wir beide haben uns mit dem Meisel-Virus infiziert, der uns bis heute nicht mehr los gelassen hat. Ich kann an dieser Stelle die Geschichte unserer langen Expedition nur im Zeitraffer Revue passieren lassen und kann all den Menschen, die uns dabei begleitet und geholfen haben, nicht ausreichend danken. Ich kann aber einen kurzen Bericht davon geben, was wir in den Archiven gefunden haben: ein wenig mehr als zwei Stunden Meisel-Musik in historischen Originalaufnahmen, die allesamt bisher weder publiziert noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet sind. 

Unseren bedeutendsten Fund stellt sicherlich die Nadeltonaufnahme der Potemkin-Musik dar. Über die Provenienz der Schellackplatten ist nichts bekannt – es ist aber offensichtlich, dass sie ihren Weg in die Sammlung des Technischen Museums als Belegexemplare einer obsoleten Technologie und nicht als ein Stück »Weltkulturerbe« gefunden haben. In der Literatur zum Tonfilm wird das Nadeltonverfahren gerne als eine technisch minderwertige Vorform des Lichttonfilms beschrieben, dem historisch gesehen nur ein kurzes und wenig glanzvolles Leben beschieden war. Wie die hervorragende Tonqualität der Potemkin-Platten aber zeigt, lag der Grund für das Verschwinden des Verfahrens sicherlich nicht in seiner mangelhaften Sprach- und Klangwiedergabe. 

Die Platten haben 40 cm Durchmesser, sind einseitig bespielt und die Rille läuft von Innen nach Außen – alles Gründe, aus denen man sie auf einem normalen Plattenspieler nicht abhören kann. Dank der Initiative und Erfindungsgabe von Rudolf Pohl, dem Tontechniker der Österreichischen Mediathek, ist es dennoch gelungen, die historischen Aufnahmen abzutasten und zu digitalisieren und somit die Grundlage für die Rekonstruktion der Tonfilmfassung des Potemkin zu schaffen. Was uns schon beim ersten Anhören der Platten und noch ganz ohne die dazugehörigen Bilder fasziniert hat, war die Fremdartigkeit des Gehörten. Die rezitierende Art zu sprechen, die comic-haften Geräuscheffekte, die Disharmonien und brutalen Rhythmen – all das schien weder in unsere Zeit zu passen, noch etwas mit den bekannten Rekonstruktionsversuchen der Musik zu tun zu haben. Ich will die Leistung derjenigen nicht in Frage stellen, die aufgrund der 1970 in Moskau aufgefundenen Orchesterstimmen und des 1983 in Dresden wiedergefundenen Klavierauszuges versucht haben, Meisels Orchesterfassung von 1926 wiederherzustellen. Aber was auf den Wiener Platten festgehalten wurde, ist so viel wilder und ungebändigter, als alles was man bisher als Meisel-Musik in Rekonstruktionen zu hören bekam. 

Im Laufe der langwierigen Restaurierung der Tonfilmfassung durch Enno Patalas, Anna Bohn, Björn Speidel und Studenten an der UdK in Berlin werden auch Stück für Stück die von der zeitgenössischen Kritik gelobten »musikalisch und optisch verschmolzenen Bilder« wieder sichtbar. Bald wird klar, dass es sich bei der Tonfilmversion nicht bloß um einen nachträglich vertonten Stummfilm handelt, sondern dass Meisel damit etwas sehr Eigenständiges geschaffen hat. Durch den Wegfall der Zwischentitel und deren Umsetzung in pointierte Dialoge, durch die Hinzufügung von Geräuschen und durch die dazu differenziert umgebaute Musik bekommt der Film eine ganz andere Dynamik als es die stummen, oder auch die nur musikalisch untermalten Fassungen leisten konnten. Der Film wirkt viel moderner und – sobald man sich an die Eigenwilligkeiten der Vertonung gewöhnt hat – auch inhaltlich viel positiver. Blieben beim stummen Potemkin stets die Schreckensbilder der Treppenszene im Kopf hängen, so geht man aus der Tonfilmfassung mit der Freude über die Solidarität unter den Matrosen hinaus – und das war ja wohl auch die ursprünglich intendierte politische Aussage des Films. 

Dass Meisels Musik nach nun fast 85 Jahren erstmals wieder im Original zu hören ist, gleicht einem kleinen Wunder und die Publikation auf DVD wird die Rezeption seines Werkes sicherlich nachhaltig beeinflussen. Mit den in Wien aufgetauchten Aufnahmen ist ein Zeitfenster aufgegangen, durch das wir nicht nur eine der wichtigsten Kompositionen der Filmgeschichte neu bewerten können, sondern auch die Stimmen einer längst verschwundenen Theaterkultur wieder auferstehen: Die Vertonung geschah ja durch Schauspieler des Piscator-Theaters.  

Frankfurt: 24 Minuten

Die eigenwilligste und vielleicht interessanteste unserer Meisel-Entdeckungen besteht in den sogenannten »Geräuschplatten«, die wir im Deutschen Rundfunkarchiv gefunden haben. Werner Sudendorf erwähnt diese Platten kurz in seinem Buch, aber erst nachdem wir alle sechs Stück bestellt und angehört haben, wird uns klar, was es damit auf sich hat und welches Potential sie für die historische Klangforschung, aber auch für heutige Musiker bieten. In einer Werbeanzeige der Deutschen Grammophon Gesellschaft aus den 1930er-Jahren werden die Platten wie folgt beworben: 

Die Geräuschstudien des bekannten Spezialisten E. Meisel auf diesem Gebiet stellen eine hochinteressante Neuheit in der Aufnahmepraxis dar. Diese Platten sind für Kino und Theater unentbehrlich, sie ersetzen eine ganze Lärm-Komparserie. Aber auch zu Hause wird manch einer Vergnügen durch die hübschen illusionserweckenden Platten finden.

Ein Artikel aus dem Film-Kurier vom 12. Juli 1928 geht unter dem Titel »Geräuschmusik auf Platten. Ein neues Meisel-Experiment« noch weiter ins Detail: 

Edmund Meisel hat bei der ›Deutschen Grammophon-Gesellschaft‹ sechs Platten erscheinen lassen, Studien seiner Geräuschmusik. Man muß an diese Experimente mit ähnlichen Voraussetzungen herangehen, wie seinerseits an die akustische Ergänzung des Berlin-Films. Diese photographierte Musik war damals nicht mehr und nicht weniger als die bisher filmübliche Illustrationsmusik: Sie war völlig anders. Aus den gleichen Gedankengängen heraus ist die nunmehr vorliegende mechanische Geräuschmusik entstanden. Sie will den Film, das Optische, akustisch ergänzen. Dazu bedient sie sich mitunter musikalischer Ausdrucksweise – wenn es angebracht erscheint. Als Musik im alten Sinne darf sie nicht gewertet werden, weil sie gar nicht so gewertet sein will. 

Es folgt eine Aufzählung der verschiedenen als »Essays« bezeichneten Kompositionen, die jeweils eine Schallplatten-Seite einnehmen und ca. drei Minuten dauern: Rhythmus eines Zuges bis zur Notbremse, Ankunft und Abfahrt eines Zuges, Bahnhofsgeräusche, Maschinengeräusche, Schlachtmusik, rhythmische Studien und Choralmusik.

Zwar entspricht es der Aufführungspraxis der späten 1920er-Jahre, dass Schallplatten mit Geräuschaufnahmen vom Kinovorführer live zu den Filmbildern gemischt werden – es gibt zu diesem Zweck sowohl eigene Drei-Teller-Abspielgeräte, als auch umfangreiche »Phonotheken«, Sammlungen unterschiedlicher Musikstücke und Geräusche auf Platte. Nach dem Abhören der zwölf Titel kommen uns aber Zweifel an den Angaben der zeitgenössischen Texte. Hat Meisel diese Platten tatsächlich aus eigenem Antrieb und zum Zweck der Filmillustration veröffentlicht?

Die Tonstücke erscheinen bei weitem zu eigenwillig und zu extrem für einen allgemeinen Kinoeinsatz. Als reine Geräuscheffekte sind sie zu musikalisch, als Musik aber wiederum zu mechanisch und schroff. Auch scheint es nicht wirklich plausibel, dass Meisel im Auftrag einer Schallplattenfirma Klangillustrationen von der Stange hätte herstellen sollen. In seinen Schriften verwehrt er sich ja geradezu gegen solch einen beliebigen Umgang mit Musik und Ton im Kino. 

Das Rätsel um die Platten erhellt sich jedoch, wenn man sich Meisels Arbeit als Kapellmeister an der Piscator-Bühne genauer ansieht. Im Jahr 1928 inszeniert Piscator Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk nach dem Roman von Jaroslav Hašek. Er interpretiert die Geschichte als Kampf des Individuums gegen einen entmenschlichten Apparat, den er für den Ersten Weltkrieg verantwortlich macht. Folgerichtig war ursprünglich daran gedacht, Schwejk als den einzig wirklich lebendigen Mensch des Stücks zu zeigen – Generäle, Richter und Geistliche sollten entweder durch überdimensionale Papierpuppen oder durch Figuren eines Zeichentrickfilms dargestellt werden, der während der Aufführung auf die Bühne projizierten wird. 

Ebenso karikaturhaft überzogen und grob geschnitzt wie die von George Grosz gestalteten Figuren fällt Meisels Musik aus. Auch sie soll nichts Menschliches haben und so verzichtet Meisel konsequenterweise auf ein live spielendes Orchester. Sein Konzept besteht darin, dass in einer mechanisierten Kriegswelt auch die Musik und die Geräusche vorproduziert und vom Grammophon eingespielt werden. 

Wenn man der Handlung des Schwejk folgt, zeigt sich, dass sie mit den von Meisel komponierten Musikstücken eindeutig korrespondiert. So gibt es eine Szene, in der Schwejk im Zug von Prag nach Budweis fährt und die Notbremse betätigt – das entsprechende Musikstück heißt »Rhythmus eines Zuges bis zur Notbremse« – und zu der für das Ende des Stücks geplante Szene »Schwejk im Himmel« passt die Komposition »Choralmusik«. In dieser Form lassen sich auch all die anderen Stücke eindeutig zuordnen. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich bei den »Geräuschplatten« um die Aufnahmen handelt, die 1928 in der Piscator-Bühne zum Schwejk gespielt wurden. 

Da professionelle Schallplatten-Aufnahmen zu dieser Zeit sehr kostspielig sind und sicherlich das Budget der Produktion gesprengt hätten, vermuten wir, dass es zu einem Handel zwischen dem Theater und der Deutschen Grammophon Gesellschaft gekommen ist. Ohne dass wir dafür eindeutige Belege gefunden haben, halten wir es für sehr wahrscheinlich, dass Meisel der Plattenfirma im Tausch gegen die Produktionskosten die Verwertungsrechte an den Aufnahmen überlassen hat. Die Tatsache, dass die Platten noch zehn Jahre nach der Herstellung im Vertriebskatalog beworben werden, ist allerdings eine Hinweis darauf, dass sich diese experimentellen Geräuschstudien nicht besonders gut verkauft haben dürften.   

Paris: 62 Minuten 

In einem Internetforum stoßen wir 2004 zufällig auf den Kommentar eines australischen Cineasten, der behauptet Ilja Traubergs Film Der blaue Express in den 1960er-Jahren mit der Originalmusik Edmund Meisels in Paris gesehen zu haben. Diesbezügliche Nachfragen in der Cinémathèque Française verlaufen zunächst ins Leere. Man sagt uns, es wäre nichts über eine Tonversion des Films bekannt, lediglich ein kurzes stummes Fragment hätte sich in der Sammlung erhalten. Jeanpaul Goergen, ein befreundeter Berliner Filmhistoriker, bestätigt uns, den Film ebenfalls vor Jahren in Paris gesehen zu haben. Thomas Tode und ich machen uns deshalb auf den Weg ins Depot der Cinémathèque im Fort de Saint-Cyr in der Nähe von Paris, um die Sache zu überprüfen und lassen uns dort das Nitro-Original vorführen. Wie ungebetene Gäste stehen wir breitbeinig im engen Vorraum und siehe da: Es findet sich der komplette Film samt der perfekt erhaltenen Tonspur (dieses Mal als Lichtton) in einer der zahllosen Regalreihen. 

Der Blaue Express ist eine filmisch teilweise anspruchsvolle Hommage an Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin aus dem Jahre 1930. Die Handlung ist in die Mongolei verlegt und statt auf einem Kriegsschiff wird der Klassenkampf in einem dahinrasenden Zug ausgefochten. Meisel macht sich den Spaß und transponiert Teile seiner Potemkin-Komposition in eine Art chinesische Fantasie-Musik. Das wirkt manchmal deplatziert, in anderen Szenen schafft er es aber tatsächlich, die Spannung zu steigern und die Bilder dramaturgisch zu stützen. 

Ein Artikel vom 29.  Oktober 1930 widmet sich unter dem Titel »Lewis Ruth-Band mit Meisel-Musik im Kino. Die Lehren des blauen Expreß« sehr ausführlich der Filmmusik: 

Edmund Meisel, der immer um die Auffindung neuer Wege Bemühte, hat die Jazzband ganz bewußt in den Dienst seiner Musik gestellt. In einer Zeit der Nuancierung, der Differenzierung, erscheint ihm ein so vielseitiges Orchester wie das des Jazz gegeben zur Film-Untermalung. Denn am Charakter der illustrativen Komposition hält er nach wie vor fest. Meisel ist auch treu geblieben, wo er über die atonale Linie hinweg das Tonale betont. Jede Teil-Epoche verlangt ihren eigenen Ausdruck. Gestern waren es die Geräusch-Rhythmen, das Tempo, das Motorische; heute arbeitet er melodisch unter Beibehaltung der Geräusche. Und morgen wird er sich, wenn es nottut wieder umstellen. Die Geräusche sind dabei selbstverständlich stilisiert. Sie werden zwar nicht komponiert, aber harmonisch in die Komposition eingefügt. 

Diese historische Darstellung deckt sich auch mit unserer Wahrnehmung. Meisels Stil hat sich tatsächlich geändert. Er ist weniger auf Effekte aus, hält sich bis auf die dramatischen Szenen mit allzu treibenden Rhythmen zurück und betont mehr das Melodische. So wie in Traubergs Filmhandlung der Potemkin zitiert und variiert wird, transponiert und neu-interpretiert Meisel seine eigene Musik. Vielleicht liegt das auch daran, dass er sich gerade zur Zeit der Vertonung des Blauen Express nochmals sehr intensiv mit seiner eigenen Potemkin-Musik auseinandergesetzt hat. Die Synchronisation und Aufnahme der Nadeltonplatten geschieht ja im September desselben Jahres – also parallel zu der neuen Komposition. 

Im zweiten Drittel des Films gerinnt die Musik allerdings zu einer wenig differenzierten und sich weitgehend wiederholenden Jazz-Improvisation. Die Lewis-Ruth-Band spielt zu diesem Zeitpunkt schon ohne Anleitung und Aufsicht, denn der nur 35-jährige Meisel verstarb noch während der Tonaufnahmen zu diesem Film an einer verschleppten Blinddarmentzündung. 

Für die von uns wiederaufgefundene Tonfassung fühlt sich vorerst niemand zuständig. Es handelt sich dabei um einen russischen Film mit der Musik eines österreichischen Komponisten, gespielt von einer deutschen Band, die einen englischen Namen trägt, mit einer französischen Postproduktion (Les Films Abel Gance). Es ist offensichtlich diese multinationale Mischung, die es bis dahin verhinderte, dass der Film in der einzig bekannten Nitro-Tonfilmkopie korrekt gelistet, gesichert und umkopiert wurde. Dank einer von uns gemachten Videoaufzeichnung und der Intervention unseres Freundes Bernard Eisenschitz sowie der Leiterin des Filmarchivs Claudine Kaufmann wird der Film aber letztlich doch als französisches Kulturerbe anerkannt und somit für die Zukunft gerettet. 

Unsere langjährige Suche in Sachen Edmund Meisel ist aber sicherlich noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Wir haben es immer so gehalten, unser Wissen mit jedem zu teilen, der einen ähnlichen Enthusiasmus für die Sache aufbringt wie wir. Wir haben auf diesem Weg viele wunderbare Menschen kennengelernt und sind zuversichtlich, dass in den Archiven und Museen dieser Welt noch einige Entdeckungen auf uns alle warten.


Potemkin-Matrjoschka. Die Nachkriegsfassungen des Panzerkreuzer Potemkin 

by Thomas Tode und Martin Reinhart

Wer von uns kann schon Auskunft darüber geben, in welcher Version er oder sie Sergej Eisensteins Bronenosez Potemkin (Panzerkreuzer Potemkin, SU 1925) das erste Mal gesehen hat? Durch die verwirrende Vielzahl der im Umlauf befindlichen Versionen erscheint der Film wie eine jener russischen Matrjoschka-Puppen, die immer noch eine weitere in sich enthält. Um im Bild zu bleiben, wäre die Moskauer Premieren-Fassung vom 24.  Dezember 1925 die äußerste der Puppen und Mutter all der folgenden Umarbeitungen, die im Laufe von nunmehr neunzig Jahren die Kinogeschichte durchlichtert haben. 

Die Premierenfassung und die drei deutschen Fassungen des Potemkin aus den 1920er-Jahren (1926, 1928, 1930) werden anderenorts in dieser Publikation ausführlich behandelt. Hier wollen wir einen Überblick zu den späteren Fassungen des Films geben. Die zahlreichen Nachkriegsversionen lassen sich grob zwei unterschiedlichen Haltungen zuordnen: Zum einen gab es noch während des Zweiten Weltkriegs – aber vor allem in den darauffolgenden Jahrzehnten des Kalten Kriegs – handfeste ideologische Gründe den Film wieder in die Kinos zu bringen. Auf der anderen Seite begann seit den 1970er-Jahren eine neue Generation von Filmhistorikern und Musikwissenschaftlern sich philologisch mit Eisensteins Film und vor allem auch mit Meisels Musik auseinanderzusetzen. Es wurden mehrere Versuche unternommen das noch vorhandene Bildmaterial zu vervollständigen und die ursprüngliche Schnittfolge des Films wieder zu rekonstruieren. Die Annäherung an die Originalmusik gestaltete sich zunächst schwierig, da eine komplette Partitur erst in den 1980er-Jahren in der Deutschen Bibliothek in Leipzig aufgefunden wurde. Im Gegensatz zu den Versuchen, den Film und seine Musik möglichst getreu wieder herzustellen, spielte Meisels Musik bei der ideologisch motivierten Verwertung des Potemkin keine Bedeutung. 

Heute sind wir in der glücklichen Lage, alle Versionen des Films nebeneinander sehen zu können. Insbesondere haben wir mit der erst jüngst rekonstruierten Nadeltonfassung von 1930 ein einmaliges historisches Dokument zur Hand, das es uns erlaubt, Meisels Musik erstmals wieder in einer Originalaufnahme zu hören.1 Mit der vorliegenden Darstellung der verschiedenen Fassungen nach 1930 soll aber keinesfalls eine Rangordnung entsprechend der Authentizität impliziert oder dem Kult des einen ›Originals‹ oder des ›Director’s Cut‹ gehuldigt werden. Jede dieser Fassungen hat für ihre Zeit und ihre Zuschauer den Status eines ›Originals‹; häufig waren sie die einzig verfügbaren. Uns ist durchaus bewusst, dass unsere Darstellung stark aus einer deutsch-österreichischen Perspektive geschrieben ist. Was jedoch offensichtlich wird, ist der Umstand, dass jede Generation und jede Nation ihren eigenen Zugang zu diesem epochalen Film gefunden hat und weiterhin finden muss. Die Vorstellung, den ›originalen‹ Potemkin wieder herstellen zu können, erscheint vor diesem Hintergrund als Illusion, als Traum der Archivare.

Seeds of Freedom

1943 entsteht mit Hanuš Burgers Film Seeds of Freedom (US 1943) die erste uns bekannte Neuinterpretation des Potemkin. Der aus Deutschland und danach aus Österreich emigrierte, geschäftstüchtige Produzent Wilhelm Székely schlug Burger 1942 vor, den Stummfilmklassiker als Tonfilm neu herauszubringen und zu synchronisieren. Über Jay Leyda, einen Schüler und Assistenten Eisensteins, wurde die Erlaubnis des Regisseurs für das Vorhaben eingeholt. Dieser Einfall und die Genehmigung aus Russland erklärt sich aus der historischen Situation, in der spätere ideologischen Differenzen zwischen der Sowjetunion und den USA noch vom gemeinsamen Kampf gegen Hitler-Deutschland überdeckt wurden. Vermutlich sahen alle Seiten Seeds of Freedom als Beitrag zur Stärkung der amerikanisch-sowjetischen Allianz gegen den gemeinsamen Feind. Eingebettet in eine neugedrehte Rahmenhandlung beginnt der Film in der von den Deutschen belagerten Stadt Odessa. Dort erzählt ein sowjetischer Widerstandskämpfer und ehemaliger Matrose des Potemkin seinen Mitstreitern von der Meuterei auf dem vor Odessa liegenden Panzerkreuzer. Eisensteins Film wird in mehreren Rückblenden eingeschnitten und geht über in eine Ermutigung des Widerstandskämpfers.2

Neben der Funktion, den Potemkin in einem aktuellen Kontext neu zu interpretieren, hatte die Spielhandlung aber auch die rein pragmatische Aufgabe, den Film zeitlich zu verlängern. Denn der mit 18 Bildern pro Sekunde (B/s) aufgenommene Stummfilm hatte sich durch das Entfernen der Zwischentitel und das Abspielen in Tonfilmgeschwindigkeit auf etwa vierzig Minuten verkürzt. In seinen Memoiren berichtet Burger, dass die Geschwindigkeit des Potemkin angepasst, die Zwischentitel entfernt und dreißig dieser Lücken unmerklich mit neu gedrehten Ergänzungsbildern gefüllt wurden.3 Neben den nachsynchronisierten Dialogen fügt er auch Musik von Paul Abraham hinzu. Der Film wurde in den USA von dem auf Sowjetfilme spezialisierten Verleih Artkino vertrieben und kam ab den 24. August 1943 in die Kinos. Die zeitgenössische Kritik äußerte sich gespalten: Sie sparte nicht mit Lob über die noch immer kraftvollen Potemkin-Passagen, während die Vertonung des Stummfilmklassikers durchaus hinterfragt wurde.

Die Krjukow-Fassung 

1949 stellte das sowjetische Studio Mosfilm eine neue Fassung des Films mit einer von Nikolai Krjukow komponierten Musik her, gespielt von dem Orchestr Kinematografii unter der Leitung von A. Gauk.4 Der Ton befindet sich – anders als bei den Nadeltonplatten – als Lichttonspur auf demselben Träger wie der Film. Damit die Bilder in der Tonfilmnorm von 24 Bildern pro Sekunde vorgeführt werden können, wurde die Bildleiste verlängert, indem jedes dritte Einzelbild verdoppelt wurde – ein auch heute noch übliches Verfahren, das in der Projektion kaum auffällt. Die Länge dieser künstlich gestreckten Kopie beträgt 1.777 m (= 65 Min. bei 24 B/s, Kopie des Bundesarchivs Berlin). 

Einem Gerücht zufolge soll es Eisensteins ehemaliger Regieassistent und Freund Grigori Alexandrow (gemeinsam mit dem Regisseur S. Kasakow) gewesen sein, der einige der Zwischentitel umformuliert, Bilder neu montiert, Passagen gekürzt und zum Teil auch verfälscht hat. In der Agitation-Szene im Anschluss an das Begräbnis rief ein Großbürger in der Originalversion »Nieder mit den Juden« und wurde dafür von der umstehenden Menge verprügelt. Dieser Zwischentitel entfiel nun ersatzlos, konform zur neuen antisemitischen Politik Stalins seit Mitte der 1940er-Jahre. Der zeitgenössische Zuschauer wunderte sich vermutlich über die plötzlich unbegründet losbrechende Aggression gegen einen der Zuhörer. 

Die Lichttonversion von 1949 wurde in zahlreiche Länder exportiert.5 Sie enthielt aber, ebenso wie die gleichzeitig weltweit vertriebenen Stummfilmversionen, immer noch die Eingriffe der deutschen Zensur aus den Jahren 1926 und 1928 (vgl. oben, S. #). Die westdeutsche Adaption (1959) dieser Tonversion stellt noch eine weitere und besonders eigentümliche Verfälschung dar. Die Zwischentitel sind entfernt und durch einen von Friedrich Luft verfassten erzählenden, entpolitisierten Kommentar ersetzt worden, gesprochen von Eich Schellow. Die Komposition der Musik wird ad absurdum geführt, da mit den Zwischentiteln auch die dazugehörigen Musikpassagen einfach herausgeschnitten wurden und der Ton dadurch immer wieder unmotiviert springt. Diese Version mit 1.538 m (= 57 Min. bei 24 B/s, Kopie des Deutschen Instituts für Filmkunde, Frankfurt a. M.) wurde u.  a. durch die Filmkunst Walter Kirchner (Die Lupe) vertrieben und prägte in der BRD teilweise noch bis in die 1980er-Jahre die Wahrnehmung des Filmklassikers.

Die MOMA-Version

1972 entsteht eine neue Zusammenstellung, zu der der Pianist Arthur Kleiner eine neue, auf Meisels Orchester-Partitur basierende Orchesterbearbeitung liefert. Der 1903 in Wien geborene und aufgewachsene Kleiner war beinahe drei Jahrzehnte lang Kurator im Museum of Modern Art (MOMA) in New York gewesen und hatte als musikalischer Leiter der Filmbibliothek jahrelang vergeblich nach Meisels Partitur gefahndet, bis Jay Leyda 1970 im Moskauer Eisenstein-Archiv Noten mit den »Orchesterstimmen« einiger Instrumente entdeckte. Kleiner berichtet dazu: 

Von Leyda hatte ich auf Mikrofilm nur die Orchester-Partitur erhalten. Die Partitur des Dirigenten fehlte völlig. Auch fehlten die Schlüssel. Da war nur Rolle eins, zwei und drei. So musste ich die Stimmen aller Instrumente abschreiben und dann die dazugehörigen Schlüssel finden. Das war nicht leicht. Die zensurierte Fassung des Films, deren sich Meisel bedient hatte, war kürzer als die mir vorliegende Fassung. Ich musste die Partitur verlängern, um sie der Länge des Films anzupassen.[6]

Kleiner benutzte eine aus dem MOMA stammende Bildfassung von 715 m Länge im 16 mm-Format (= 66 Min. bei 24 B/s, Kopie der Freunde der Deutschen Kinemathek, Berlin), musste aber bei fehlenden Passagen die Musik verlängern. Die Rekonstruktion wurde 1972 für den Fernsehsender KCET in Los Angeles mit einem Studentenorchester aufgeführt. Eine von diesem Magnetband auf Film übertragene 16 mm-Kopie führte 1974 das Forum des Jungen Films in Berlin auf und archivierte sie im Archiv der Freunde der deutschen Kinemathek. Diese Fassung wurde auch am 22. Januar 1978 im ZDF ausgestrahlt. Die MOMA Version des Potemkin wurde – allerdings ohne Ton und in der ursprünglichen Stummfilm-Länge – in den USA ab Mitte der 1970er-Jahre auch als Normal 8 und Super 8 Kopie als Lehrmittel für Schulen und zur privaten Nutzung hergestellt und vertrieben. 

Die Jubiläums-Fassung von 1975 (Schostakowitsch-Fassung)

Zum 50. Jubiläum des Filmes lässt das sowjetische Filmstudio Mosfilm den Potemkin-Film durch den Eisenstein-Experten Naum Kleeman, den Filmemacher Sergej Jutkewitsch und durch D. Wassiliew restaurieren. Einige in Deutschland und den USA aufgefundene Bilder, u. a. aus der Treppensequenz, werden zusammen mit den vervollständigten Zwischentiteln wieder eingefügt – ausgenommen den Epitaph am Filmanfang, einem Trotzki-Zitat, das zu dieser Zeit noch immer tabu ist. 

Da die auftraggebende Filmadministration eine zutiefst »sowjetische« Musik wünscht, wird diese aus den Werken des gerade verstorbenen Komponisten Dmitri Schostakowitsch zusammengestellt. Es sind Fragmente seiner Symphonien Nr. 10, 11 (Das Jahr 1905), 12 (dem Jahr 1917 gewidmet) und 5 (die Toccata), nahezu ausnahmslos in historischen Aufnahmen (d. h. Schallplatten) der Leningrader Philharmoniker unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski. Lediglich eine kleine Passage muss vom Orchestr Kinematigrafii unter der musikalischen Leitung von A. Kliot und A. Lapissow neu aufgenommen werden, um sie besser an die Bildhandlung anzupassen. 

Die Schostakowitsch-Musik ist erheblich langsamer als die ›energische‹ Vertonung von Meisel und entspricht oft nicht den Entwicklungen der Filmhandlung – das liegt in der Natur der Sache, da man vorhandene Schallplattenaufnahmen verwendete. Diese ebenfalls künstlich gestreckte Fassung mit der Länge von 2.013 m (= 74 Min. bei 24 B/s, Kopie des Deutschen Instituts für Filmkunde) ist seit 1978 bei den Freunden der deutschen Kinemathek im Verleih und auch im Deutschen Institut für Filmkunde vorhanden. Die russischen Zwischentitel sind hier deutsch untertitelt worden.

Der Klavierauszug 

1983 finden Konrad Vogelsang und Lothar Prox in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden einen vollständigen Klavierauszug, eine »Klavier-Direktionsausgabe« von Meisels Musik und liefern damit einen bedeutenden Beitrag zur Rekonstruktion der Orchesterfassung. Die Prometheus hatte diese Noten für die erste deutsche Fassung von 1926 den Kinos zur Verfügung gestellt. Mark Andreas-Schlingensiepen wurde mit der auf diesem Dokument basierenden Neubearbeitung für Orchester beauftragt, die 1986 während einer Tournee durch Deutschland und Frankreich von der Jungen Deutschen Philharmonie unter Dirigent David Shallon vorgetragen wurde. Für Ausstrahlungen im Schweizer Fernsehen und dem Bayerischen Rundfunk wurde die Musik zu dieser Bildversion unter Mark Andreas’ Leitung vom Orchestra della Radiotelevisione della Svizzeria Italiana eingespielt.

Die Münchner Fassung (Patalas-Prox-Fassung)

1986 hat Enno Patalas, Leiter des Münchener Filmmuseums, zusammen mit dem Meisel-Experten Lothar Prox eine weitere Bearbeitung und Vertonung des Films vorgelegt. Eine Positivkopie, die das Münchener Filmmuseum vom sowjetischen Filmarchiv Gosfilmofond erhalten hatte, wurde umgeschnitten, ergänzt und mit deutschsprachigen Zwischentiteln versehen. Die Ergänzungen stammten aus drei in London erhaltenen Nitrokopien des Potemkin. Ziel war eine Fassung, die »einerseits mit der für die Jutzi-Fassung komponierten – Meisel-Musik funktionierte, andererseits Eisensteins Kritik an der Jutzi-Fassung berücksichtigte und die deutschen Kürzungen und Verfälschungen weitestgehend rückgängig machte«.7 Die Patalas-Prox-Fassung hat eine Länge von 1.341 m (= 74 Min. bei 16 B/s, Kopie des Filmmuseums München) und wurde anlässlich einer Neubearbeitung der Meisel-Musik in Auftrag gegeben. 

Diese Bild- und Tonfassung bleibt aber philologisch und filmgeschichtlich ein Kompromiss. So wurde einerseits die Meisel-Partitur der ursprünglichen Fünf-Akte-Struktur angepasst und für ummontierte Montagekomplexe umarrangiert, andererseits wurden einige Bildumstellungen Jutzis, die Eisenstein nicht ausdrücklich getadelt hatte, beibehalten: So beginnt etwa die Treppensequenz bei Patalas-Prox mit den Stiefeln der Kosaken und einer Gewehrsalve, in der Goskino- (und also auch der Schostakowitsch-) Fassung mit vier ruckartig heranspringenden Großaufnahmen einer Frau. Die Patalas-Prox-Version rekonstruierte also weder die original Goskino-Fassung von 1925 noch die Jutzi-Fassung von 1926.

Die Londoner Duplikate gingen auch in eine zeitgleich entstandene zweite Bearbeitung ein, die sogenannte Münchner Fassung des Potemkin mit 1.359 m (= 74 Min. bei 16 B/s, Kopie des Münchener Filmmuseums). Sie orientiert sich nicht an der Jutzi-Fassung, sondern unternahm es, die Goskino-Fassung von 1925 möglichst originalgetreu zu re-montieren. Allerdings behielt sie die aus der Nachkriegszeit stammenden russischen Gosfilmofond-Zwischentitel bei. Die Fassung besteht in München nur als Positiv zu Vorführzwecken, aber ein britisches Archiv hat sich davon ein Negativ ziehen lassen.

Die Berliner Fassung 

Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Potemkin-Uraufführung von 1925 konnte bei der Berlinale 2005 eine völlig neu erstellte Version des Filmes präsentiert werden, mit 1388 m (= 70 Min. bei 18 B/s, Kopie der Stiftung Deutsche Kinemathek). Mit dieser Rekonstruktionsarbeit erfüllte sich Enno Patalas, der schon für die Fassungen von 1986 verantwortlich zeichnete, einen Lebenstraum. Im Rahmen eines großangelegten Restaurationsprojektes der Universität der Künste Berlin (UdK), unter der Gesamtleitung der Stiftung Deutsche Kinemathek und finanziert von der Kulturstiftung des Bundes, wurde erstmals auch das Negativ neu gesichert. Trotz diplomatischer Interventionen auf höchster Ebene konnte leider nicht auf das original Kameranegativ des Films zurückgegriffen werden, das spätestens 1945 nach Moskau zurückgekehrt war. Der Gosfilmofond befand es für nicht mehr kopierbar. Für die Restauration musste daher eine von dem Kameranegativ gezogene Kopie der ersten Generation zugrunde gelegt werden. Patalas fand diese Kopie als Nitro-Postiv im British Filminstitute. Sie stammte ursprünglich aus den USA und war 1939 für die Filmsammlung des New Yorker MOMA erworben und nach dem Krieg den British Filminstitut überlassen worden. Zwei weitere britische Filmkopien lieferten Bilder, die im Nitro-Positiv des British Filminstitute fehlten. 

Aber auch in dieser bisher ambitioniertesten Rekonstruktion fehlen trotz aller Bemühungen immer noch einige Szenen der Uraufführungsfassung. Ein Beispiel dafür ist die Gefangennahme des von der Flotte vorausgeschickten »Torpedobootes Nr. 267« im Finale des Films. Diese Szene wird in zeitgenössischen Kritiken geschildert; in der rekonstruierten Fassung sind davon aber nur ein Zwischentitel und eine paar kurze Bilder erhalten. So kann auch die Berliner Fassung nur einen weiteren Schritt der Annäherung an die Uraufführungsfassung repräsentieren. 

Die Wiener Fassung 

2002 fand Martin Reinhart, der damalige Kurator der Abteilung Fotografie und Film am Technischen Museum Wien, in den Beständen des Museums drei komplette Sätze mit jeweils fünf Schallplatten des Filmtons. Da die Nadelton-Fassung von 1930 damals im Bewusstsein der Eisenstein-Forschung kaum existierte und auch in der spärlichen Literatur zu Meisel allenfalls beiläufig erwähnt wurde, erteilte das Technische Museum Wien dem Hamburger Filmhistoriker Thomas Tode den Auftrag, die Geschichte dieser vergessenen Tonfilm-Version zu recherchieren.

2003 kam es zur Kooperation mit Enno Patalas, der durch die in Wien gefundenen Platten nun auf eine sehr genaue Zeitangabe für die ebenfalls geplante Rekonstruktion der deutschen 1926er Jutzi-Fassung zurückgreifen konnte. Da der Film nahezu lippensynchron nachvertont und die Abspielgeschwindigkeit normiert war, konnten die Filmstücke bildgenau angelegt werden. Das Team um Enno Patalas und Anna Bohn rekonstruierte nun – in einer Art reverse engeneering – zuerst die 1928er-Fassung, die mit dem Schnitt der Nadelton-Fassung von 1930 identisch war, um dann mittels der in den Zensurakten dokumentierten Umschnitte die Fassung von 1926 wieder herzustellen. 

In einer Koproduktion zwischen dem Österreichischem Filmmuseum, der Österreichischen Mediathek, dem Technischen Museum Wien, dem Münchner Filmmuseum und der Universität der Künste Berlin wurde 2015 nun endlich eine kinotaugliche Version auf DCP und eine DVD Fassung der Nadeltonfassung hergestellt (Dauer 48 min, das entspricht 1.315 m bei 24 B/s). Die Projektpartner einigten sich auf die Bezeichnung »Wiener Fassung«, da die Nadeltonplatten in Wien gefunden wurden und Edmund Meisel geborener Wiener ist.

Die »Wiener Fassung« ist die einzig existierende Version des Films, auf der Meisels Komposition als historisches Tondokument im Original zu hören ist. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von allen bisher gemachten Rekonstruktionen und Interpretationen der Musik und zeigt eindrücklich, um wie viel kompromissloser und wilder die zeitgenössische Aufführungspraxis war. Filmhistorisch stellt sie ein bedeutendes Experiment am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm dar und gibt auch einen überraschenden Einblick in die agitatorische Ästhetik im Deutschland der späten 1920er-Jahre. 

Die offizielle Filmpremiere der »Wiener Fassung« findet am 6. März 2015 im Österreichischen Filmmuseum in Wien statt.

Wie schon anfangs gesagt, sollte man die Idee eines ›Originals‹ nicht zu sehr strapazieren, denn auch alle anderen Fassungen, die nach der Moskauer Uraufführung entstanden, haben für ihre jeweiligen Länder oder Auswertungszeiten den Status eines ›Originals‹. Fassen wir zum Abschluss die verschiedenen in Deutschland präsentierten Versionen des Potemkin noch einmal zusammen: 

  • 1925 die Goskino-Fassung

  • 1926 zwei unterschiedlich lange Fassungen, die von Phil Jutzi im Auftrag der Berliner Vertriebsfirma Prometheus geschnitten wurden, um den Film durch die deutsche Zensur zu bringen 

  • 1928 neuerlicher Umschnitt durch Phil Jutzi

  • 1930 basierend auf der 1928er-Fassung entsteht die Nadelton-Fassung des Potemkin

  • 1943 Hanuš Burgers Seeds of Freedom 

  • 1949 Krjukow-Fassung

  • 1959 Friedrich-Luft-Version mit Krjukow-Musik 

  • 1972 MOMA-Version mit der Vertonung von Arthur Kleiner

  • 1975 Jubiläums-Fassung mit der Musik von Dimitri Schostakowitsch

  • 1986 Patalas-Prox-Fassung 

  • 1986 Münchner Fassung

  • 2005 Berliner Fassung

  • 2014 Wiener Fassung: Rekonstruktion der Nadeltonfassung von 1930 

Potemkin hat – wie Chris Marker einmal treffend sagte – das kollektive Unbewusste einer ganzen Generation beschrieben. In der Tat sind seine Bilder so sehr zu einer kollektiven Realität geworden, dass sich nach einer Kinovorstellung ein ehemaliger Matrose des echten Schlachtschiffs bei Eisenstein mit den Worten einfand, dass »er bei der Erschießungsszene auf dem Achterdeck unter der Persenning gestanden habe« – obwohl die Persenning doch ein reiner Regieeinfall Eisensteins gewesen war. Welch hinreißende Fiktion, die so sehr in Realität umschlagen konnte!

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